„Für den Mittelstand denkt die Politik oft zu kurz …“
Interview mit dem IBU-Vorstandsvorsitzenden und neuen WSM-Vizepräsidenten Ulrich Flatken
HAGEN -14. Juli 2021. Ulrich Flatken, Vorstandsvorsitzender des Industrieverbandes Blechumformung (IBU), ist seit wenigen Wochen auch Vizepräsident des Wirtschaftsverbands für Stahl und Metallwaren (WSM). In beiden Funktionen setzt er sich für den Mittelstand ein. Hier ein Interview mit ihm zur Zusammenarbeit mit der Politik, aktuellen Anforderungen und Perspektiven der metallverarbeitenden Unternehmen.
In Ihrer neuen zusätzlichen Funktion als WSM-Vizepräsident sind Sie ein Stück näher an der Politik. Wie groß ist der Abstand zwischen industriellem Mittelstand und politisch Verantwortlichen?
Gefühlt gigantisch – gerade nach Berlin. Die Politik berücksichtigt den Mittelstand kaum. Er ist zwar ein Thema, aber das sind eher Lippenbekenntnisse. Kleine Unternehmen haben eine zu geringe mediale Aufmerksamkeit – das macht sie für Politiker vielfach unbedeutend. Dabei vergessen sie, dass das einzelne mittelständische Unternehmen vielleicht nur 100 Mitarbeiter hat, der Mittelstand insgesamt aber den Großteil der Arbeitsplätze stellt.
Die Politik denkt in diesem Bereich zu kurz …?
Sie denkt Themen öfters nicht zu Ende. Bestes Beispiel ist das Homeoffice. Persönlich bin ich ein Freund von flexiblen Arbeitsmodellen – wenn sie realisierbar sind. Fehlt ein leistungsfähiges Internet, wie etwa vielerorts im Sauerland, wird die Umsetzung schwierig.
Welche Möglichkeit sehen Sie, den Verantwortlichen diese Themen näherzubringen?
Mittelständische Unternehmen sollten mehr mit ihren lokalen Abgeordneten sprechen. Um ein Grundverständnis zu wecken und Problematiken aufzuzeigen. Am Standort haben Unternehmen schon mit 100 oder 200 Arbeitsplätzen gute Chancen, Politiker- und Medieninteresse zu wecken. In dieser unternehmerischen Kommunikation mit der Politik ist noch Luft nach oben. Auch und gerade im Dialog mit politisch Andersdenkenden.
Aktuell belasten Turbulenzen Unternehmen zusätzlich: Zur Pandemie kommt der große Mangel – bei Chips, Stahl etc. Wie können Betroffene damit umgehen?
Für Unternehmen zahlt sich ein langfristiges Beziehungsmanagement zu Lieferanten aus. Wer Vertrauen aufbaut und verlässliches Handeln zeigt, ist in der Beschaffungskrise im Vorteil. Zusätzlich ist Kommunikation erforderlich. Mit Kunden über die Weitergabe von Preissteigerungen, aber auch mit Banken und Lieferanten. Überlebenswichtig aber ist, dass die Politik das Problem an der Wurzel packt: Sie schützt die Stahlindustrie – die Safeguards gehen gerade in die Verlängerung. Entscheidend ist nun, dass dieser geschützte Industriebereich seiner Pflicht nachkommt, die aus dem Schutz erfolgt: eine Marktversorgung zu akzeptablen Preisen. Das fehlt – wir erleben eine dramatische Versorgungssituation und Höchstpreise.
Welche gravierenden Folgen hat der Stahlmangel für Unternehmen?
Die Vorfinanzierung ist bald doppelt so hoch wie normal, bei der Warenkreditversicherung werden die Limits überschritten. Die negativen Begleiteffekte sind enorm. Und es sind weitere Preissteigerungen absehbar, wenn die vielerorts üblichen Halbjahresverträge mit Stahllieferanten jetzt auslaufen. Wir werden mit Insolvenzen als Folge des Stahlpreises rechnen müssen.
Mit der Verlängerung der Safeguards erschwert oder unterbindet die EU Stahlimporte für weitere drei Jahre und erschwert die Beschaffung zusätzlich. Wird Protektionismus auch in Europa „hoffähig“?
Das würde uns als „Exportweltmeister“ sehr schaden. Ein großer Wirtschaftsraum wie China kann es sich eher leisten, Exporte einzuschränken und sich nicht in die Weltwirtschaft zu integrieren. Deutschland funktioniert nur im europäischen Kontext und über weltweite Exporte. Wir müssen global wettbewerbsfähig bleiben – Produkte werden zu teuer, wenn Protektionismus nur noch eine Vormaterialbeschaffung innerhalb der EU erlaubt.
Hinzu kommt, dass die Einfuhrzölle für Stahl, aber nicht für Stahlprodukte gelten. Der außerhalb der EU günstiger produzierende Wettbewerb darf also importieren. Dieser Protektionismus berücksichtigt nicht alle Zusammenhänge. Auch das ist politisch nicht zu Ende gedacht und benachteiligt hiesige Stahlverarbeiter.
Im Rahmen des EU Green Deals sind weitere Handelsbarrieren in Form von Ausgleichszöllen geplant. Können wir ökologische Standards ausbauen, wenn außerhalb Europas niedrigere Standards vorherrschen?
Unsere typisch deutschen Denkansätze – wir müssen besser, schneller, weiter sein – sind problematisch. Hohe Energiekosten, strenge Klimaziele, weitreichende soziale und ethische Fragestellungen, massive Steuerbelastungen – all das gefährdet unsere Wettbewerbsfähigkeit. Weltweit und auch schon innerhalb der EU. Das Thema Energie sehen europäische Länder teilweise anders … Hier muss die deutsche Politik globale, ökologische, ökonomische Folgen, also komplexe Zusammenhänge, berücksichtigen. Sonst geht es uns wie bei vielen Flüssen: Vor 30 Jahren wurden sie begradigt und die Folgen wurden nicht vorhergesehen, nun werden sie renaturiert, um die Folgen der Begradigung wieder rückgängig zu machen.
Hat der Mittelstand überhaupt genügend Substanz und Zeit, um die Herausforderungen -Klimaneutralität, aber auch digitale Transformation, Elektromobilität – anzunehmen?
Für den Mittelstand ist es entscheidend, offen zu sein für Kooperation und Austausch. Der KMU-Bereich muss mit veränderten Rahmenbedingungen umgehen, Problemlösungen andenken und technologische Lösungen anbieten. Ein Vorteil ist seine höhere Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Der Mittelstand ist ideenreich, hat schlankere Strukturen, alle Mitarbeiter dürfen mitdenken – das ist klar ein Asset.
Werden alle mittelständischen Unternehmen den Wandel bewältigen?
Wahrscheinlich nicht jedes, aber das gilt auch für Konzerne. Es ist auch eine Frage des Produktes, der generellen Unternehmensausrichtung etc. – Unternehmen mit wenig Alleinstellungsmerkmalen haben es schwerer.
Die Verbandsstrukturen mit Fach- und Wirtschaftsverbänden und dem Bundesverband der Deutschen Industrie sind tradiert. Arbeitgeberverbände, IHKs und Regionalverbände kommen hinzu. Wie hoch ist die Effizienz der verschiedenen Interessenvertreter?
Die Verbandsproblematik besteht, insbesondere bei übergeordneten Verbänden wie dem BDA, darin, dass sie Unternehmen mit unterschiedlichen Bedürfnissen vertreten. Daraus ergeben sich Konflikte. Große Unternehmen können vielfältige Ressourcen anbieten, die Interessen der Mittelständler gehen eher unter. Das ist schwer zu lösen. Beim WSM sind wir mittelständisch orientiert – das erleichtert ein effizientes Vorgehen.
Wenn Sie nach vorn blicken: Auto verliert – Nischenmärkte gewinnen … Ist das die Zukunft?
Die Frage ist nicht generell zu beantworten. „Individuelle Mobilität“ heißt das Thema der Zukunft. Wir müssen alle Bedürfnisse sehen, nicht nur die der urbanen Bevölkerung. Ähnlich wie beim Homeoffice hat das kleine Dorf im Sauerland andere Anforderungen.
Ganz persönlich: Sie engagieren sich für ein Netzwerk und den Mittelstand. Manchmal eine Sisyphusarbeit gerade auch an der politischen Front. Was soll in der Goldenen Chronologie des IBU in 20 Jahren über Sie stehen?
Das ist noch sehr weit weg. Aktuell freue ich mich einfach, beim IBU in einem Verband aktiv zu sein, der aktive, interessierte Mitglieder hat. Der attraktive Angebote bietet. Und der einen gut besetzten Vorstand hat – mit klaren Meinungen. Dieses engagierte Unternehmertum ist etwas, was ich fördere und was mich fasziniert. Das wird vermutlich auch im Rückblick ein Kernpunkt sein.Text 7.393 Z. inkl. Leerz.
Der IBU in Hagen vertritt als Bundesverband circa 240 Mitgliedsunternehmen der blechumformenden Industrie und deren Zulieferer. Diese überwiegend aus mittelständischen Familienunternehmen bestehende Branche wird durch eine industrielle Fertigung für marktmächtige Kunden geprägt. Das Umsatzvolumen der Branche betrug im Jahr 2019 rund 20,49 Milliarden Euro. Die Verbandsmitglieder sind mehrheitlich Zulieferer der Automobil- und Elektronikindustrie, des Maschinen- und Anlagenbaus, der Möbel- und Bauindustrie sowie der Medizintechnik.
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